PAWEL STREIT

Portfolio, People, Reportagen, Projekte

Ein Bisschen Ich

Fotoprojekt, Luzern

Die GasseChuchi ist kein guter Ort. So mag zumindest das Urteil jener lauten, die in ihr bloss einen Treffpunkt für Leute sehen, die etwas im Leben falsch gemacht haben. Das mag zwar auf irgend eine Weise stimmen, jedoch wird diese Ansicht dem einzigartigen Alltag in der GasseChuchi nicht gerecht. Die Lokalität bietet weitaus mehr als nur warme Mahlzeiten – so ist sie nämlich auch Raum für Austausch und Begegnung verschiedenster Individuen, welche mit ihren ganz eigenen Geschichten das Zusammensein in der Chuchi bereichern. Es wird zusammen gegessen, gespielt, gearbeitet, gelacht und geflucht. Jede Persönlichkeit bringt hierbei ihre Vorstellung von Glauben, Gerechtigkeit und Bedeutung mit sich. Um Letztere geht es im vorliegenden Fotoprojekt.

Auf die Frage, ob sie etwas an oder auf sich tragen würden, was mit einer eigentümlichen Form von Bedeutung versehen sei, zeigten die Menschen der GasseChuchi – sowohl Klienten als auch Mitarbeiter verschiedenste Dinge. Ob nun Tattoo, Narbe, Glücksbringer o.a., eine Vielzahl an Motiven häufte sich an. Manches wirkt im ersten Augenblick abstrakt und wird erst mit den erklärenden Worten der Fotografierten mit Sinn versehen.

Die dabei entstandene Sammlung mag im Einzelbild willkürlich erscheinen, wird aber im Kollektiv zum Sinnbild für das, was die GasseChuchi halt eben ist: Ein Ort mit ausgeprägtem Charakter, der für alle Beteiligten eine Verbundenheit darstellt und im selben Moment durch deren Individualität mitgeformt wird.

Anmerkung
Mit * markierte Texte wurden in Zusammenarbeit mit den Portraitierten durch Pawel Streit verfasst. Sämtliche anderen Texte wurden von den jeweiligen Personen selbst geschrieben. Die Absicht dahinter war eine möglichst wortgetreue und persönliche Wiedergabe der Erzählung zum jeweils fotografierten Motiv. Entsprechend wurden die Texte nicht weiter bearbeitet.

B.S.*
Dieser Hut ist ein Original Panama-Hut, der aber eigentlich so wie alle anderen aus Ecuador stammt. Seit ich 17 Jahre alt bin, trage ich Hüte. Ich habe Hüte für alle Jahreszeiten. Dieser Strohhut war kaputt, er hatte ein Loch. Ich habe ihn aber mit einem Stück Jeans und Heissleim repariert und dazu noch gleich ein passendes Band aus Jeans angefertigt.

P.W.*
Auf meinem Rücken befindet sich ein Tattoo. Eigentlich ganz klein, nicht so auffällig. Doch der Schein trügt. Ich war in einer Drogentherapie, dort kam ich mit einem Mitklienten auf eine Idee. Ein Tattoo selber stechen. OK. Wir taten das. Weshalb hab ich dieses nicht überstechen lassen? Ist ja nicht so hübsch. Antwort: Dieser Freund ist nach der Therapie beim Zelten ums Leben gekommen. Darum bleibt es so wie es ist.

N.S.*
Diesen Glücksteddy habe ich seit über 10 Jahren und ich habe ihn ständig dabei. Der Teddy hat einen Pulli an. Ich wurde traurig, weil dieser kaputtging. Per Zufall ging ich in der GasseChuchi zu einer Schneiderin und fragte, ob sie den noch retten konnte. Sie meinte aber „Nein“ und hat mir dafür aber einen neuen Pulli gemacht und ich war wieder glücklich.

A.T.*
Meine Nase, weil sie schon dreimal gebrochen ist. Das erste Mal war mit vier Jahren. Der Freund meiner Mutter tat es. Das zweite Mal war in der Notschlafstelle bei einem Streit, weil ich meine Füsse nicht gewaschen hatte. Das dritte Mal war bei einem Konflikt, als mir jemand 100 Fr. „Scheiss-Koks“ verkaufte. Am Nachmittag traf ich ihn am Bahnhof und sprach in darauf an. Er war mit seiner Schwester am Telefon, die nichts von den Drogen wissen durfte. Da ist er ausgerastet und trat mich sieben Mal gegen die Nase. Er ist Kickboxer.

B.H.*
Die Narbe ist von einer Handgranate die nicht explodiert, sondern irgendwie inflamiert ist. Seitdem wächst dort keine Beinbehaarung mehr, wo früher man nicht mal das Bein sehen konnte vor Haaren. Sie ist vom Militärzeit von 2003-05, von PKK Anhängern geschmissen beim Gefecht in den Bergen nahe Ararat. Glück gehabt, denn wäre es explodiert hätte ich entweder kein Bein oder ich wäre tot.

T.G.
Für mich bedeutet das Schreibheft, das ich ca. 200-250 Tage im Jahr in meiner alten Umhängetasche mitschleppe, um Ideen, Blitzgescheites oder auch „Blödes“ und Strukturen, bzw. auch Ereignisse, die sich an dem Tag ereigneten, „Notes“, also persönliche Einträge über Wohlbefinden respektive das Gegenteil, Ärgernisse, gute Aufsteller oder einfach Dinge, die mich emotionell berührten respektive halt beschäftigten, oder ganz einfach Textarbeiten festzuhalten – ein sozusagen also unentbehrlicher Begleiter!

B.R.
Mein Tattoo will ausdrücken was Scheinheiligkeit ist. Auch meine Einstellung hat sich seither nicht geändert. Dieser Künstler lebt leider nicht mehr! – Einer meiner besten Mitinsassen im Gefängnis.

D.P.*
Das Tattoo zeigt für mich, dass ich an ein Leben nach dem Tod glaube. Jede Person hat den Tod bereits in sich. Er ist eine Erfahrung die schlussendlich jeder macht. Jede Person hat auch ein Stück Böses in sich, das manchmal hervorkommt. Es ist ein Teil von uns. Eine nahestehende Person ist gestorben und ich spürte sie danach auf unerklärliche Weise an meiner linken Seite. Auch dafür steht das Tattoo.

A.R.
2007 durfte ich nach Kopenhagen in Dänemark reisen zur Fussballweltmeisterschaft für Obdachlose. Trotz starker Leistung haben wir alle Spiele verloren und wurden also Letzter. Trotzdem war es eine wunderschöne Zeit die wir erleben durften. Alle Zeitungen und Radiostationen kamen auf mich zu. Von mir wurde sogar im Radio und in den Zeitungen geredet. Mein Fuss hat mich dorthin geführt – er wurde sehr beansprucht.

M.S.
Seit meiner frühen Jugend prägt mich ACDC. 1980 kaufte ich mir meine erste eigene Platte. Nach und nach kamen weitere Alben hinzu. Back in Black ist trotzdem meine Lieblingsscheibe. Wie man mich mit ACDC in Verbindung bringt, bringt man Angus Young mit seiner Schuluniform in Verbindung. Meine Begleitung seit 37 Jahren.

F.S.*
Der Verkauf von Eichhof-Lagerbier Dosen dient mir persönlich zur Finanzierung meiner Sucht. Ich trinke selber keinen Alkohol mehr. Wenn, dann würde ich als Luzerner aber Eichhof bevorzugen. Darum verkaufe ich auch dieses Bier. Man sieht mich häufig mit einem Sixpack herumgehen.

G.N.*
Bei einer Schlägerei schlug jemand mit einem Veloständer auf mich ein. Die dabei entstandene Wunde musste ich 8 Mal operieren, da sie sich immer wieder entzündete. Ich landete für etwa einen Monat im Kantonsspital. Von da haute ich immer wieder ab, da ich dort zu wenig Alkohol bekam und kein Gras rauchen durfte. Was mir davon blieb ist ein Schock und die Narbe.

W.L.
Vor 21 Jahren befand ich mich in England in einem Sprachaufenthalt. Nach den drei Monaten bin ich etwa noch drei Wochen im Land herumgereist. So habe ich mich auch mehrere Tage in der wunderbaren Stadt York aufgehalten. In einer Gasse mit wunderbaren Rigelhäusern traf ich auf einen Laden der „Edinburgh Woollen Mill“. Ich betrat den laden und kaufte mir einige Pullover. Da ich sehr müde war, fragte ich die Verkäuferin ob ich etwa meinen schweren Rucksack plus die Pullovertasche für einige Stunden hier deponieren könne. Die sehr freundliche Verkäuferin schaute mich sehr entsetzt und voller Angst an. Ich erklärte ihr, dass ich Schweizer sei und die Stadt besuche. Nach langem und inständigen Bitten durfte ich wenigstens den Plastiksack dort lassen. Den Rucksack auf keinen Fall. Draussen auf der Gasse kam mir in den Sinn, dass der Bahnhof keine Schliessfächer hatte und ganz London keine Mülleimer. Zum Alltag gehörte die Angst vor dem Bombenterror der IRA.

O.K.
Ich finde ein Tattoo sollte eine Geschichte haben! Mein Tattoo habe ich im Gefängnis (39 Monate) gemacht. Ein guter Freund wollte mein Bob-Marley T-Shirt, ich wollte mein persönliches Gefängnistattoo. Er machte gute Tattoos und machte mir mein Arab-Tattoo gegen mein Bob-Marley Shirt. So sollte ich eine Erinnerung an diese Zeit erhalten. Ich habe lange Zeit in Arabien und dem Maghreb verbracht, was mir die Kraft für diese Welt hier gebracht hat.

R.O.
Mich kennt man unter dem Namen: „Der mit dem Kopfhörer“. Ich bin einfach gerne für mich alleine und höre immer Musik. Unter meinem richtigen Namen kennen mich die wenigsten. Ich habe in 25 Jahren Konsum meinen guten Charakter immer beibehalten. Die meisten anderen machen für Drogen alles.

B.W.*
Heart of Nazgul. Mein Tattoo stellt einen doppelköpfigen Drachen dar. Ebenso kann man es aber auch als Schädel oder als Gottesanbeterin-Herz ansehen. Ich habe es selbst entworfen. Ursprünglich als Herz entworfen, bedeutet es für mich Liebe. Jedoch kann es sehr vielseitig interpretiert werden. Für mich ist es ein Körperkult, ein Projekt an mir selber.

R.D.*
Ich trage einen Rosenquarz-Salzstein bei mir. Ein Kollege von mir, der Schamane ist, brachte ihn aus dem Himalaya mit und dann kam ein gutes Gefühl aus dem Stein in mich hinein. Daraus habe ich beschlossen, es wird ein langer und steiniger Weg sein. Es kann ja nicht überall dunkel sein. In diesem Moment blinkte der Stein und er sprach: Meine Herkunft wird dein Ende sein.

R.S.
I Amsterdam si Trotuar mit Stangänä am Randstei entlang abgränzt. Dieä Stangä heissä „Amsterdameie“, so seit mä in Holland. U vor 43 Jahr ha i mit mirä erstä grossä Lieäbi dä Früälig vo dä Natur u vo mir dörfä gnüssä. U mis Tattoo zeigt dä „Amsterdameie“ so wieä s Gras.

P.K.*
Handwerk und Kreativität können mir behilflich sein, meine Tagesstruktur auszufüllen. Musizieren und Malen ist für mich eine Form von Seelennahrung. Als Ex-Workaholic kann ich so auf angenehme Art und Weise Lösungen finden. Zu meiner Ideologie gehört, dass es keine Probleme gibt, sondern nur Lösungen. Durch das entstehen Auf- und Ab’s auf Gefühls- und Handlungsebene, die mich aktivieren. Hinzu gesellen sich interessante Gespräche mit anderen Leuten, deren Vielschichtigkeit einen positiven Einfluss auf mich nehmen können. Die Aufarbeitung meiner Vergangenheit führte so auch dazu, dass ich zu meinen Handlungen stehen kann und dem Leben gegenüber eine andere Wertschätzung habe. Die Griffschalen dieser Messer habe ich z.B. selber gemacht.

D.H.*
Dieser violette Amethyst stammt von meinem verstorbenen Exfreund. Wir waren 7 Jahre zusammen. Ich ziehe diesen Anhänger nicht mehr ab. Nirgends. Niemals.

H.K.
Als 25-Jähriger habe ich mich wegen schwerer Darmprobleme notfallmässig, ausserkantonal in ein Kantonsspital einliefern lassen. Als privatversicherter Patient konnte ich mir das Spital aussuchen. Ich entschied mich für dieses, weil angeblich der beste Chirurg in der Schweiz dort praktizierte. Böse Fehlentscheidung. 13 Wochen Martyrium. Hier ist der erste Fehler, welcher an mir „verübt“ wurde: Ein Venenverschluss durch einen falsch angelegten Katheter.