PAWEL STREIT

Portfolio, Reportagen

Istanbul

Reisereportage, Istanbul

[…] Ich gucke während dem Flug ein veraltetes Werbevideo für die Touristendestination Cherson in der Ukraine. Irgendwie makaber. Katastrophentourismus ist nicht mein Ding, doch lockt mich das Interesse an politischen Umständen nach Istanbul.

Bei der Passkontrolle lerne ich, dass offenbar auch Gesichter hinter Schleiern kurz fremden Blicken dargeboten werden müssen. […]

[…] Es ist schwül. Zwar fallen einzelne Regentropfen vom Himmel, doch verdampfen sie gleich wieder. Der Himmel ist bedeckt und wird es auch häufig bleiben in den nächsten Tagen. Das Wetterphänomen El Niño sei dafür verantwortlich, lasse ich mir erklären. Hallo Klimawandel.

Die Stadt kocht. Und mir ihr die Welt. […]

[…] An einer Ecke des Taksim Platzes reiht sich Dönerbude an Dönerbude. Hier werden aus Stereotypen Tatsachen. Wer vegetarisch unterwegs ist, bekommt zwar Alternativen, sieht sich aber kulinarisch nicht im Paradies angelangt.

Wer süss unterwegs ist, hingegen schon. Ich hole mir ein leckeres, aber klebriges türkisches Dessert und setze mich an den Taksim Platz. Von hier gehen offenbar Proteste aus, die sich gegen ein immer stärker in die Autokratie abdriftendes Regierungssystem richten. Dieses treibt den Konservatismus voran.

Mir fiel das zumindest heute nicht auf. Im Gegenteil bin ich überrascht, dass die Stadt viel weniger orientalisch wirkt, als ich es mir insgeheim vorgestellt hatte. Hier koexistieren Burkas neben Tanktops. Der Glaube ist da, ja, doch macht er sich nicht so ausgeprägt bemerkbar, wie ich es z.B. in Marokko erlebt habe. […]

[…] Reisen eigentlich wohlhabende Leute aus arabischen Ländern nach Istanbul, um etwas exotisch-westliches zu erleben? Wo hier für die einen das Tor zum Osten liegt, befindet sich für andere jenes zum Westen. Mir begegnen jedenfalls viel arabisch sprechende Leute und kaum Touristen aus dem Westen. Der August ist zu heiss für kühle westeuropäische Gemüter.

In einer Seitenstrasse komme ich mit einem Stoffhändler ins Gespräch. Er gibt mir unverhöhnt seinen Argwohn gegenüber der eigenen Landesregierung preis. Diktaturen seien schlecht, meint er und lässt in einem einzigen Satz die Namen Hitler, Putin, Trump und Erdogan fallen. Verwandte von ihm wohnen in Barcelona und Frankfurt. Gerne würde er sie besuchen, doch er erhält seit Jahren kein Visum. Dabei möchte er gar nicht dauerhaft weg, ihm gefällt es hier.

Reisen ist ein Privileg. Ich geniesse es – mit schlechtem Gewissen. […]

[…] Ich schlendere eine Strasse entlang, die ausschliesslich von Läden gesäumt ist, die Gastronomie-Utensilien verkaufen. Dieselben Produkte, immer und immer wieder. Wie steht es hier wohl um das Konkurenzgebahren? Fehlt hier im Kleinen das eifrige Denken des expansiven, neoliberalen Finanzkapitalismus? Gibt man sich zufrieden mit den bescheidenen Verkäufen, ohne sein Geschäft gleich irrsinnig vergrössern zu wollen?

Es ist zudem auffällig, wie viele Gebäude in der Altstadt heruntergekommen sind und leer stehen – manchmal gar direkt neben neuen Hotels. Steckt dahinter Mietspekulation? […]

[…] Vor mir steht die Hagia Sofia. Von aussen sieht sie wie ein Flickenteppich aus: Alt und unstet im Baustil. Wie Ameisen wuseln die Touristen in und um das Aushängeschild Istanbuls.

Das Schuhe-Ausziehen am Eingang entfesselt derweil ein Tsunami der Gerüche. Ich betrete das Gebäude, das einst eine der grössten Kirchen der Welt war. Bevor diese dann zur Moschee umfunktioniert und zwischenzeitlich sogar als Museum genutzt wurde. Unter Erdogan erklärte man den Bau nun wieder zur Moschee. Wer setzt hier ein Zeichen? Die Religion oder die Politik?

Zu meinem Erstaunen wurden jedenfalls die christlichen Attribute vor vielen Jahrhunderten im religiösen Eifer nicht zerstört, sondern bloss überdeckt. Das Gebäude ist falsch ausgerichtet. Die Streifen auf dem Teppich zeigen die korrekte Blickrichtung nach Mekka. […]

[…] Das Innere der blauen Moschee ist hell und beeindruckend filigran verziert. Die Anzahl der Minarette, die die heilige Stätte säumen ist aussergewöhnlich. Der Sultan wollte damals protzen. Neben dem Bau befand sich früher ein Hippodrom. Lediglich ein paar Statuen zeugen noch davon. Ebenso wie der Obelisk aus Ägypten und die Bronzestatue, die irgend ein Herrscher damals aus Delphi entwendet hatte. Ausserdem prunkt da noch ein Wasserspender vom deutschen Kaiser Wilhelm III.

In dieser Stadt betrieb man schon äusserst früh und intensiv kulturelle Aneignung. Ob hier heutzutage Einsicht dafür vorhanden ist? […]

[…] Zu zweit wollen wir eigentlich am Bosporusufer etwas trinken, doch da ist alles zugebaut. In einer Bar räsonieren wir schliesslich übers Reisen und seine ökologische Kehrseite. Tourismus ist ein Klimakiller. Und wir sind Teil davon. Geht das in Ordnung? Ich gehöre zu einer Generation, die mit Schuldgefühlen bombardiert wird ohne, dass sie tatsächlich alleine für die Ursachen dafür verantwortlich ist. Zugleich bringt Reisen die Welt näher zusammen – im Positiven. Ich fühle mich von diesem Dilemma zerrissen. […]

[…] Eine Bootsfahrt führt mich entlang dem Bosporus. Er teilt die Stadt und trennt die Kontinente. Zugleich dient er als Nadelöhr von unermesslicher globaler Bedeutung. Mein Schiff gleitet dahin, vorbei an Frachtschiffen mit Ladung aus Russland – und der Ukraine. Finanzströme fliessen digital, Waren hingegen bleiben nach wie vor dem analogen Fluss treu. Wer letztere kontrolliert, hat Macht. Davon zeugen auf angrenzenden Hügeln diverse gigantische türkische Flaggen. Ihre ungeheure Dimensionen flössen mir bereits aus der Distanz Ehrfurcht ein.

Vom Wasser aus sieht man auch die zahllosen Minarette, die die Silhouette der Stadt prägen. Ich vermisse derweil die Kirchtürme, die mir tatsächlich eine zeitliche Orientierung erlauben. 

Was man hingegen kaum sieht: Baukräne. […]

[…] Die Neugier bringt mich ins Viertel Kadiköy im asiatischen Teil er Stadt. Was auch immer „orientalisch“ genau bedeuten mag, hier finde ich jedenfalls nicht. Verwinkelte Gässchen mit unzähligen Vintage-Stores und bunte, besprayte Fassaden ziehen mich in den Bann. Kopftücher sehe ich hier kaum, dafür auffällig viele Bandshirts. Hier wird geraucht. Viel geraucht. Zum pittoresken Sonnenuntergang an der Meerpromenade treffen sich Jung und Alt, Mann und Frau, Ayran und Bier. Willkommen in Hipstanbul.

Meine Nase führt mich mitten in der Stadt unverhofft in eine grosse katholische Kirche. Was für mich eine Selbstverständlichkeit darstellt, ist für die Mehrheit der anwesenden neugierigen Tourist*innen eine Exkursion in ein fernwestliches Kulturgut. […]

[…] Heute bewege ich mich praktisch komplett abseits der Touristenströme und wandere an der hiesigen Goldküste einen Hügel hinauf. Hier stehen Luxusunterkünfte und ein gepflegter Park säumt die Strässchen. Oben angelangt erblicke ich auf der anderen Seite der Meerenge die Altstadt und dahinter die moderne Skyline. Kehre ich mich um thront da am Rande der Stadt ein Moloch von einem Sakralbau. Von Erdogan veranlasst, wurde die Çamlıca-Moschee innerhalb der 2010er-Jahre erbaut. 65‘000 Gläubige haben darin Platz. Ob diese nun auch der Glaube an die Staatsführung eint? […]

[…] Auf einem Landzipfel, der in die Meerenge hinausragt, steht eine Statue Atatürks. Auf dem Rasen davor, wirft sich eine adrett gekleidete junge Frau vor der Smartphonelinse ihrer Influence-Vasallin im eingeübten Takt in abstruse Posen. Das Gesicht der Frau ziert eine Nase, die aussieht, als habe jemand beim Knete-Modellieren seinem Expressionismus freien Lauf gelassen. Je nach Ansicht nennt sich das auch Schönheitsideal. Und dieses hat hier einen hohen Stellenwert.

Mir begegnen unzählige Männer, deren Kopfhaut wie von tausenden Nadelstichen malträtiert, rot pulsierend über einem Stirnband hervorragt. Haartransplantations-Tourismus boomt hier. Ich streichle mir derweil verdutzt meine Geheimratsecken. […]

[…] Auf einem Landzipfel, der in die Meerenge hinausragt, steht eine Statue Atatürks. Auf dem Rasen davor, wirft sich eine adrett gekleidete junge Frau vor der Smartphonelinse ihrer Influence-Vasallin im eingeübten Takt in abstruse Posen. Das Gesicht der Frau ziert eine Nase, die aussieht, als habe jemand beim Knete-Modellieren seinem Expressionismus freien Lauf gelassen. Je nach Ansicht nennt sich das auch Schönheitsideal. Und dieses hat hier einen hohen Stellenwert.

Mir begegnen unzählige Männer, deren Kopfhaut wie von tausenden Nadelstichen malträtiert, rot pulsierend über einem Stirnband hervorragt. Haartransplantations-Tourismus boomt hier. Ich streichle mir derweil verdutzt meine Geheimratsecken. […]

[…] Mit dem Bus verlasse ich mitten in der Nacht Istanbul und die Türkei in Richtung Westen. Ich darf das – mein roter Pass erlaubt es mir. Einem jungen Pärchen wird das hingegen verwehrt und sie werden an der Passkontrolle im Niemandsland aus dem Bus geführt.

In Griechenland erwarten mich Waldbrände. […]