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„Es ist gut so, wie es ist. Wieso sollte man es also ändern?“
Diese Haltung klingt beinahe nachvollziehbar, sobald man aus dem Tunnel fährt und im idyllischen Innerthal in den Schwyzer Alpen eintrifft. Hier scheint die Welt noch in Ordnung. Doch was tut man, wenn die Veränderung kommt – ob man sie nun will oder nicht?
Innerthal ist eine von vielen Schweizer Kleingemeinden. Bei knapp 180 Einwohner*innen fehlt der Primarschule langsam der Nachwuchs und damit ihre Existenzberechtigung. Trotzdem hält man verbissen an ihr fest. An Leuten im Tal fehlt es derweil nicht: Der Tourismus belebt es tagsüber – und hinterlässt Müll, Kot und Unmut. Nur wenige profitieren von ihm. Verantwortung wird sich gegenseitig zugeschoben, womit eine Lösung zum Wohle aller nicht in Aussicht ist.
Selbst auf dem Land aufgewachsen, fühle ich mich mittlerweile in der Stadt wohl. Vom politischen Stadt-Land-Gefälle irritiert, begab ich mich für mein Projekt in die Berge, um herauszufinden, was Menschen in dem Teil des Landes bewegt, den ich hinter mir gelassen habe. Ich stiess dabei auf die Erkenntnis, dass Offenheit noch längst nicht die Öffnung für Veränderung bedingt.
Das Projekt wurde im April 2024 als Buch vom Verlag BENTELI publiziert.
Ich komme aus dem Tunnel und bin in einer anderen Welt. Buntes Herbstlaub, Kühe und ein See, in dem sich die verschneiten Bergspitzen spiegeln. Ein Idyll breitet sich vor meinen Augen aus. «Schweizerischer geht es kaum», liess ich mir sagen. Doch was bedeutet denn schon schweizerisch?
«Tschüss Sepp!», fallen die Worte, als zwei ältere Leute aus dem Bus steigen. Da merke ich, ich bin angekommen. Im Innerthal – einer knapp 180 Seelen-Gemeinde in den Schwyzer Bergen. Lediglich 40 Autominuten trennen das Tal von Zürich, der Metropole.
Ich bin hier, um diese Distanz zu überwinden. Nicht bloss die räumliche, auch die geistige. Ich bin hier, um herauszufinden, was für eine angeblich andere Welt das ist, was sie bewegt und wer sie bewohnt.
Auch ich verlasse den Bus. […]
[…] «Einfach, urchig», seien hier noch manche.
Mich beschäftigt es, dass Menschen als einfach bezeichnet werden. Bedeutet es, sie sind absichtlich bescheiden mit dem Wenigen, das sie haben? Oder impliziert es auch, dass sie vielleicht gar nie erst die Möglichkeit sahen, beziehungsweise das Bewusstsein erlangten, dass es Alternativen zu ihrem Dasein gibt? […]
[…] In einem Restaurant wird mir erzählt, dass man vor Ort nicht nach intellektuellen Gesprächen suchen solle. Unterhaltungen würden sich am Stammtisch um das drehen, was man hier habe: «Beim Bauern geht es um das Wetter, bei den Jägern um Gamsböcke und bei Fischern um den letzten Fang.» Allgemein sei das Leben hier anders als etwa in urbanen Gebieten. Wer hier wohne, müsse mehr für das Leben machen. Einheimische wüssten zum Beispiel, was es bedeute, der Witterung ausgeliefert zu sein. Prekäre Strassenverhältnisse gehörten dazu, ebenso wie die Überwindung grösserer Distanzen. «Das Soziale im Moment fehlt hier. Man muss es immer organisieren.» Das seien mitunter Gründe, «wieso die Leute hier anders sind.» Mir wird zudem erklärt, dass es eine bewusste Entscheidung sei, hier zu leben. Gilt das auch für den Knaben, der bereits mit 16 Jahren wusste, dass er dereinst den Hof des Vaters übernehmen werden muss? […]
[…] Unweigerlich frage ich mich: Ist so eine kleine Schule überhaupt sinnvoll? Prompt stosse ich auf kritische Stimmen. Finanziell falle ihre Erhaltung zum Beispiel ins Gewicht. Steuern würden auch jene ohne Schulkinder zahlen. Von Seiten Zugezogener treffe ich zudem auf die Angst vor einem sozialen Defizit. Kinder bräuchten Übung im Spielen und Lernen mit Gleichaltrigen. Ansonsten hätten sie später möglicherweise Mühe, Anschluss zu finden. Die Prognose für die nächsten Jahre deutet auf markant weniger Primarschüler*innen hin. Pädagogisch sei «die Schule so nicht mehr haltbar.» An mir liegt es nicht, dies zu entscheiden. Aber ich erkundige mich über die Zukunft der Schule. […]
[…] «Geht die Sonne unter, leert sich das Tal.»
Die Restaurants schliessen früh. Erdrückende Stille begleitet mich dann jeweils durch die Ortschaft. Selbst der Dörfligeist treibt nun sein Unwesen woanders. Das Leben verlagert sich nach drinnen. Lichter gehen an. Doch nicht überall. Dunkel säumen zahl- reiche Ferienhäuser den See. In ihnen befänden sich «kalte Betten.» Nur an manchen Tagen werden sie genutzt. Konkret dann, wenn die entsprechenden Besitzer*innen Zeit für ihr «Sekundärleben in den Bergen» haben. Der Umbau jener Gebäude zu Wohnhäusern für Familien lohne sich nicht. Sie seien zu klein. Einem Ausbau stehe zudem erneut die Gesetzgebung im Weg. Wenn, dann fänden hier meist nur alte Leute ihr letztes Domizil. Ich bin jedenfalls nur temporär da. Mehrmals sitze ich darum draussen und geniesse den Sternenhimmel. In der Stadt sehe ich da oben jeweils deutlich weniger helle Flecken. […]
[…] Wie wird man denn eigentlich Teil der Gemeinde? «Ganz einfach, man muss hier wohnen», bekomme ich in der Gemeindekanzlei erklärt. Bloss lerne ich in weiteren Gesprächen, dass das noch längst nicht bedeutet, Teil der Gemeinschaft zu sein. Von Zugezogenen erfahre ich, dass man hier zwar freundlich empfangen werde, die Integration darüber hinaus indessen stark von der Eigeninitiative abhänge. Durch Vereine wie die Feuerwehr, die Feldschützengesellschaft oder den Jassclub et cetera geschieht das offenbar sehr schnell. Für mich ist diese Auswahl nicht sonderlich attraktiv, gebe ich zu verstehen. Natürlich sei die Vielfalt im Urbanen grösser, relativiert ein Frühpensionär meinen Einwand. Sie mache aber letztlich «nicht die Lebensqualität aus, sondern das Zuhause. Dieses soll ein Rückzugsort sein, wo man sich entspannt, sich erholt und sich mit seinen Gedanken auseinandersetzen kann.» Passend wird mir das Tal auch als «Zufluchtsort» beschrieben, der «trotzdem irgendwie offen ist.»
Vor was flieht man denn hierher? […]
[…] Während sich eines Tages die Abendsonne vor mir im kräuselnden See spiegelt, wird mir bewusst, dass ich es hier im Tal nicht mit einer sterbenden Welt zu tun habe oder mit einer, in der die Zeit stillsteht. Vielmehr sehe ich mich mit einer Welt konfrontiert, deren Bewohner*innen anders mit Veränderung umgehen, als ich es mir aus meinem progressiven, urbanen Umfeld gewohnt bin. Dieser Umgang ist begründet, denn das Leben ist hier tatsächlich anders. Das lerne ich. Es geschieht, indem ich mit den Leuten spreche, etwas über ihre Ansichten erfahre und versuche, mich in sie hinein zu versetzen. Nicht immer fällt es mir leicht – das ist Empathie über die eigene Komfortzone hinaus. Den Konservatismus, der mir hier begegnet, muss ich nicht ausnahmslos gut heissen, aber
ich begegne ihm zumindest mit Neugier und Respekt. Ich erkenne weiter, dass ich und andere Aussenstehende nicht den Anspruch haben dürfen, über lokale Entscheidungen zu urteilen.
Uns fehlt der unmittelbare Bezug dazu. […]
Ausstellung: HSLU Design & Kunst – Werkschau 2021
Das Buch als eigentliches fotografisches Zentrum des Projekts wurde auf einer im Innerthal angefertigten Holzbank platziert, Die Wand gegenüber veranschaulichte als ergänzende Erzählebene gesammeltes Recherchematerial. Dieses reicht von Broschüren, alten Fotografien über Karten bis hin zu Kinderzeichnungen.
im Anschluss brachte ich die Bank wieder zurück ins Innerthal und platzierte sie da. Die darauf montierte Plakette trägt die Aufschrift: „Wo bist du fremd?“